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„Jeder dritte Buchloer war ein Vertriebener“

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Herbert Sedlmair schildert im Kolpinghaus die Ereignisse der Jahre 1945/46. Angesichts des Kriegs in der Ukraine hätte das Thema nicht aktueller sein können – und ruft bei vielen Zuhörern Erinnerungen wach.

Ein mehr als 75 Jahre altes Thema hat Herbert Sedlmair mit seinem Vortrag „Flucht und Vertreibung 1945/46“ aufgerollt, zu dem „Kolping 60plus“ ins Kolpinghaus eingeladen hatte. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine hätte das historische Thema nicht aktueller sein können. Einmal mehr scheint es, als hätte die Menschheit aus all den Kriegen der Vergangenheit nichts gelernt. Doch es gibt Hoffnung.

„Jeder dritte Buchloer war damals ein Heimatvertriebener“, informierte Herbert Sedlmair zu Beginn seines fast zweistündigen Vortrags. Die Mehrzahl kam aus dem Sudetenland – Deutsche aus den Grenzregionen von Böhmen, Mähren und Schlesien – viele aus Ostpreußen und weiteren Ostgebieten. Einige der Zuhörerinnen und Zuhörer im bis auf den letzten Platz voll besetzten Saal hatten bei Sedlmairs Ausführungen wieder die ein dreiviertel Jahrhundert alten Bilder vor Augen, andere erinnerten sich zumindest an Erzählungen aus diesen längst vergangenen Tagen.

„Der Herr Sedlmair hat sich gut vorbereitet“, sagte eine ältere Frau am Ende des Vortrags anerkennend. Der frühere Schulamtsdirektor und langjährige Vorsitzende des Heimatvereins Buchloe und Umgebung hatte gewissenhaft und behutsam recherchiert, stand also bei seinem Vortrag sozusagen „voll im Stoff“. Anhand der zahlreichen sorgfältig ausgesuchten und an die Leinwand projizierten Bilder, Karten und Dokumente arbeitete er sich durch das Thema. Dabei reagierte er sofort auf die vielen Fragen und Hinweise der überwiegend betagten Zuhörerschaft. Das Interesse und die Aufmerksamkeit dürfen getrost als riesengroß beschrieben werden.

Im Stadtarchiv gestöbert

Nach einer im Vorstand des Heimatvereins geborenen Idee hatte Sedlmair während der beiden vergangenen Jahre im Stadtarchiv gestöbert, Dokumente gesichtet, vor allem aber hatte er 17 noch lebende Heimatvertriebene interviewt. Parallele zum Krieg in der Ukraine: Auch 1945/46 waren es hauptsächlich Frauen und Kinder, die fliehen mussten. Die Männer mussten bleiben, waren im Krieg oder in Gefangenschaft. Oder sie waren gefallen oder vermisst.

In Sedlmairs Vortrag wurde plötzlich all das Leid und Elend wieder lebendig, das die Menschen mit dem Verlust ihrer Heimat, ihres Hab und Guts, den Entbehrungen einer gefährlichen, abenteuerlichen, kräftezehrenden Flucht, oft bei extremer Kälte, zu Fuß, vielleicht mit einem Handwagen, auf Pferdefuhrwerken oder in Güterwaggons ertragen hatten. Sedlmair berichtete auch von Registrierungs- und Entlausungsprozeduren in Grenzdurchgangs- beziehungsweise Sammellagern und der Unterbringung auf dem Land, in Wirtshaussälen, Notunterkünften, Behelfsheimen, Baracken, aber auch in Privatwohnungen. Er rief das gegenseitige Kennenlernen mit den Menschen in der Region Buchloe in Erinnerung, sprach die „Mischehen“ zwischen Buchloern und Geflüchteten an, thematisierte das – zunächst – Immer-noch-Hoffen auf eine Rückkehr in die alte Heimat und schließlich das Akzeptieren der neuen Heimat, in der sie im beginnenden Aufschwung wertvolle Impulse setzten. An die Orte ihrer Kindheit hatte es einige der Interviewten nach Jahrzehnten wieder zurückgeführt.

Demütigung und Enteignung

In seinem Vortrag stellte Sedlmair das Thema in den historischen Kontext und ging dabei weit zurück bis in die Zeit der Ansiedlung von Deutschen in jenen Gebieten, aus denen sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben werden sollten. „Sie kamen nicht als Eroberer, Eindringlinge oder Besatzer. Sie wurden gerufen, um die Länder zu kultivieren.“ Umso schmerzlicher waren Demütigungen, Exzesse, Enteignung, Umsiedlung, Abschiebung, Vertreibung, Flucht unter der neuen Herrschaft.

Trotz alledem gibt es Zuversicht für die aktuelle Zeit. In der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950 verzichteten diese auf Rache und Vergeltung. Frieden und Aussöhnung sind also möglich.

Buchloe kann sich glücklich schätzen, mit dem 77-jährigen Herbert Sedlmair einen engagierten Bürger in der Stadt zu haben, der die Erinnerung an frühere Zeiten dokumentiert und damit vor dem Vergessen bewahrt. Das Publikum belohnte ihn am Ende seines Vortrags im Kolpinghaus mit viel Beifall. (Buchloer Zeitung/Klaus D. Treude)