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Kolpingsfamilie

Hennef

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Ein Weckruf: Fachkräftemangel in Handwerk und Mittelstand

veröffentlicht am

Ein Weckruf geht von der Veranstaltung „Wer backt demnächst die Brötchen?“ – Fachkräftemangel in Handwerk und Mittelstand aus. Die Zahlen sind alarmierend: Jährlich gehen 1,3 Millionen erfahrene Handwerker in den Ruhestand, aber nur halb so viele Nachwuchskräfte rücken nach, nämlich 0,7 Millionen Auszubildende. Und das seit Jahren. Deshalb fehlen gegenwärtig bereits acht bis zwölf Millionen Fachkräfte.
Ebenso dramatisch: In den nächsten zehn Jahren verabschieden sich zusätzlich 40 Prozent aller heutigen Betriebsinhaber und Fachkräfte in die Altersfreizeit. Das Thema der Veranstaltung trifft also ins Ziel. Und klar ist auch: So behäbig wie bisher geht es nicht weiter, die Politik ist zu ernsthaften Anstrengungen aufgefordert. Damit tatkräftig gehandelt wird, müssen jetzt alle Bürger aufmerksam werden.
Zunächst: Die Kolpingsfamilie hatte eine exklusive Expertenrunde versammelt: Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Prof. Dr. Friedrich-Hubert Esser, berichtete aus neutraler, unabhängiger Sicht. Seine Analyse der Situation überzeugte. Kreishandwerksmeister für Bonn/Rhein-Sieg, Thomas Radermacher, und der Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Köln, Dr. Thomas Günther, ergänzten das Bild der Gesamtsituation. Ebenso ein Betriebsinhaber des Hennefer Handwerks und ein Auszubildender, der gerade seine Wanderschaft beendet. Alle kamen zu Wort und waren sich einig in der Ursachenanalyse. Jetzt sind Landes- und Bundespolitik gefragt. Hier fehlt es offenbar an entschlossenen Weichenstellungen.

Viertstärkste Wirtschaftsmacht

Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung ließ keinen Zweifel am hohen Ansehen des Handwerks. Dass Deutschland neben USA, China und Japan die viertstärkste Wirtschaftsmacht weltweit darstellt, hat nach Ansicht von Friedrich-Hubert Esser auch mit der Qualität des deutschen Handwerks und seines dualen Ausbildungssystems zu tun, das sonst nur in den Nachbarländern Österreich und Schweiz vergleichbar beheimatet ist.

Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung ließ keinen Zweifel am hohen Ansehen des Handwerks. Dass Deutschland neben USA, China und Japan die viertstärkste Wirtschaftsmacht weltweit darstellt, hat nach Ansicht von Friedrich-Hubert Esser auch mit der Qualität des deutschen Handwerks und seines dualen Ausbildungssystems zu tun, das sonst nur in den Nachbarländern Österreich und Schweiz vergleichbar beheimatet ist.

Der Nachwuchsmangel verursacht viele Risiken. Friedrich-Hubert Esser wies deshalb auf die Möglichkeit hin, dass dringend notwendige Transformationsprozesse nicht umgesetzt werden können. „Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte entstehen derartige Risiken.“
Handwerk und Mittelstand üben außerdem eine wichtige staatspolitische Aufgabe aus. „Wo lernen die jungen Menschen außerhalb von Familie und Schule, ein demokratischer Staatsbürger zu werden? Wo lernen sie die Lebenswirklichkeit auf intensive Weise kennen? Wo sammeln sie Erfahrungen, im Team zu arbeiten, wo auf jeden Einzelnen Verlass sein muss? Wo lernen sie, mit Kunden umzugehen? Wo werden sie wirklich erwachsen?“ Der Handwerksmeister, der die jungen Menschen anleite, sei auch in vielfacher Hinsicht ein Erzieher, bekräftigte der führende Bildungsexperte.

Akademisierungswelle

Gleichzeitig wies er auf die entstandene Akademisierungswelle hin. In den 60-er Jahren habe der Anteil eines Jahrgangs, der ein Studium aufnahm, bei sechs Prozent gelegen, im Jahr 2020 immerhin 47 Prozent. Der steigende Anteil der Abgänger mit Hochschulreife trage dazu bei. Im Jahr 2015 habe es erstmals mehr Abiturienten also Hauptschulabgänger gegeben.
Friedrich-Hubert Esser begrüßte den Anstieg der höheren Bildungsabschlüsse, ohne näher auf das jeweilige Niveau einzugehen. Jedoch warnte er vor einer Fixierung auf akademische Ausbildungsgänge. Der Grund: hohe Studienabbrecherquoten. Bei den Fachhochschulen bricht jeder Fünfte sein Studium ab, an den Universitäten jeder Dritte! Ganz abgesehen von fehlenden Berufsperspektiven bei vielen Studienabschlüssen. Denn Studiengänge werden häufig angeboten, obwohl es für derartige Fächer keine Nachfrage gibt. Derartiges stört weder die Universitäten noch die Zuschussgeber der Landesregierungen. Schulabgänger zeigen sich in der Praxis leicht überfordert, dies zu durchschauen.

Beim Handwerk ist die Situation genau anders herum: Nachwuchs wird händeringend gesucht! Und die Betriebe geben sich alle Mühe, ihn qualitativ auszubilden. Denn immerhin hängt das Wohl der Firma am Erfolg der Mitarbeiter. Und da gegenwärtig mit den geburtenstarken Jahrgängen soviel Betriebsinhaber wie noch nie in der Geschichte des Landes ausscheiden, sind die Karrierechancen so günstig wie noch nie! Mit einem florierenden Handwerksbetrieb lässt sich in der Regel weit mehr Geld verdienen als mit einem akademischen Theoretikerdasein in einer Behörde oder Bildungseinrichtung.

In der Gesellschaft hinkt aber das Ansehen einer soliden Berufsausbildung noch hinterher. Darauf wies Bildungsexperte Friedrich-Hubert Esser hin: „Handwerker stehen in hohem Ansehen, weil man froh ist, dass die Probleme im Haus beseitigt werden. Etwas anderes ist es, wenn die eigenen Kinder mit einem solchen Beruf liebäugeln.“ Und selbst wenn eine Berufsausbildung aufgenommen werde, laute die Frage: „Aber was sollen sie anschließend studieren?“
Friedrich-Hubert Esser: „Die Gesellschaft hat es verlernt, den nicht-akademischen Beruf als etwas Erstrebenswertes anzusehen.“ Die Zahl der Ausbildungsverträge geht zurück, die Zahl der Einschreibungen an den Universitäten steigt.

Gleichwertigkeit schaffen

Die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Bildungswege bleibt also ein Thema. Erfreut ist Friedrich-Hubert Esser über das Bestreben der NRW-Landesregierung, dies nun in der Verfassung festzuschreiben. „Das wäre ein wichtiger politischer Impuls mit der möglichen Wirkung, die Öffentlichkeit wachzurütteln.“ Zum Jubeln ist es aber noch viel zu früh: „Es gibt wichtige gesellschaftliche Gruppen, die eine Gleichwertigkeit nicht anerkennen wollen, darunter die Hochschulrektorenkonferenz, außerdem die Kultusministerkonferenz der Länder.“ Bereits heute bescheinigt der Meisterbrief dem Absolventen die Qualifikation „Bachelor Professional“.
Auch nach bestandener Lehre und Meisterprüfung muss die Karriere im Handwerk nicht zum Abschluss kommen. Wie es weitergehen kann, schilderte Friedrich-Hubert Esser am Beispiel des Berufsbildes „Mechatroniker“. Vor der Weiterbildung zum Meister gebe es bereits die Fortbildung zum Servicetechniker. Und aufbauend auf den Meisterbrief die Qualifizierung zum KFZ-Betriebswirt. Friedrich-Hubert Esser nannte diese Stufung qualifizierender Abschlüsse ein „gutes Beispiel für andere Gewerke“.

Der Kreishandwerksmeister für den Raum Bonn/Rhein-Sieg, Thomas Radermacher, ruht nicht, um Lösungen für die Nachwuchsprobleme zu finden. Die Verkürzung der Arbeitszeit hält er für untauglich. Sie wirkt gegenläufig, wenn gleichzeitig die Zahl der Aktiven zurückgeht. So findet sich auch niemand im Saal, der für eine solche Forderung eintritt.
Thomas Radermacher schlägt vielmehr vor, länger zu arbeiten. „Gegenwärtig geht durch die Eintritte in den Ruhestand so viel Fachkompetenz verloren, die nicht ersetzbar ist. Bei weniger Menschen können wir nicht kürzer arbeiten.“ Und er warnte: „Die Energiewende wird ausfallen, wenn wir keine Leute haben. Auch künstliche Intelligenz bringt kein einziges Solarpanel aufs Dach und keine Wärmepumpe in den Keller. Dafür benötigen wir gut ausgebildete Menschen, von denen wir momentan zu wenig haben.“

Seine Erwartungen an die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte ist begrenzt. „Wir werden keine Heerscharen junger Menschen aus Europa oder darüber hinaus zu uns bringen. Denn die Fachkräfte, die wir benötigen, gibt es im Ausland nicht. Die müssen wir erst ausbilden“, stellte Thomas Radermacher ernüchtert fest.
Die Digitalisierung könne Prozesse beschleunigen, aber nicht die Mitarbeiter ersetzen. Als großes Hindernis nannte er die Angst vor Bürokratie. Auch eine verbreitete Vollkasko-Mentalität stehe im Wege. Der öffentliche Dienst sei begehrter als die Gründer-Kultur. Dabei sei wirtschaftlicher Erfolg derzeit besonders leicht erreichbar: „Soviel Betriebsinhaber wie noch nie suchen einen Nachfolger.“

2,6 Millionen ohne Abschluss

Erfolgreich sei die Methode, die 131 Ausbildungsberufe des Handwerks vor Ort in den Schulen vorzustellen. Aber: Die Anzahl der Schulklassen sei viel zu groß, um dies zu leisten.
Dann ist da noch die Zahl von 2,6 Millionen jungen Menschen in Deutschland, die über keinen Berufsschulabschluss verfügen. Ein neuer Rekord! Laut Berufsbildungsbericht 2023 stieg der Anteil der jungen Menschen (20 bis 35 Jahre) ohne Berufsabschluss in nur einem Jahr von 15,5 auf 17,8 Prozent! Ein riesiges Potenzial. Aber, wie ein Redner feststellte, der Bundesarbeitsminister kümmert sich seit Jahren mit begrenztem Erfolg darum. Dennoch: „Das ist zu viel für ein Land, das dringend auf Fachkräfte angewiesen ist“ (Esser).

Es gibt eine Anzahl von Menschen, die nicht in das vorhandene Schema passen, weil sie über keinen oder nur einen schlechten Schulabschluss verfügen, weil sie das Studium abgebrochen haben, aber über mehr Kompetenzen als einen Hauptschulabschluss verfügen, oder weil sie sich in ihrem Herkunftsland Kenntnisse angeeignet haben, die nützlich sind, aber unseren Anforderungen nicht entsprechen.
Der Kreishandwerksmeister weist deshalb auf die Notwendigkeit einer stärkeren Modularisierung der Ausbildung hin. Das muss das Handwerk, das sich selbst verwaltet, auch selbst hinbekommen. Der Leidensdruck ist groß genug, um den Mut für neue Wege zu finden. Denn das Bewährte, auf das nicht nur das Handwerk zurecht stolz sein kann, soll damit nur ergänzt und nicht beseitigt werden!
Dennoch bleiben Handwerk und Mittelstand auf die Unterstützung der gesamten Gesellschaft und der Politik angewiesen. Die Bürger müssen mehr über die Chancen sprechen, die Handwerk und Mittelstand bieten. Denn es geht nicht allein um die Bäcker, welche früh aufstehen, um die Brötchen zu backen. „Den Kölner Verkehrsbetrieben fehlen so viele Straßenbahnfahrer, dass manche Linien in der Innenstadt nur im 20-Minuten-Rhythmus verkehren können“, berichtete Dr. Thomas Günther, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Köln. „Der Nachwuchsmangel ist kein alleiniges Problem des Handwerks.“

„Werkstolz“

Thomas Günther ging in seinem Redebeitrag intensiv auf das Wesen der Arbeit und auf verbreitete Vorstellungen über das Handwerk ein. Dem Handwerk ergehe es ähnlich wie dem Ruhrgebiet: Das Klischee von Ruß und Schmutz habe sich in vielen Köpfen festgesetzt. Beides habe sich gewandelt: weg vom Schmutz hin zur Innovation.
Entscheidend sei etwas anderes: Wie zufrieden hinterlässt ein Arbeitsauftrag die Menschen, die sich darum kümmern? Hier berichtete er von sich selbst als ein Beispiel für den Büroalltag eines Theoriearbeiters, der am Tag einige E-Mails verfasse, aber nichts Sichtbares und Bleibendes hinterlasse. Thomas Günther verwendete das Wort „Werkstolz“. Ein wenig verbreiteter Begriff, der aber etwas Zentrales ausdrücke: Handwerker seien zufriedene Arbeitnehmer, weil sie mit ihren eigenen Händen ein Werk schaffen, das für sie selbst und andere sichtbar sei und dem Kunden die Lösung für einen Bedarf oder ein Problem ermögliche. Zufrieden sind also nicht nur die Handwerker, sondern auch deren Auftraggeber.
Werkstolz erlebe zum Beispiel der Konditormeister, der dem Brautpaar eine kunstvoll gestaltete Hochzeitstorte überreiche.

Thomas Günther erwähnte weitere Vorteile des Handwerks, deren Betriebe nicht anonym und unübersichtlich seien, sondern wo der Chef seine Mitarbeiter persönlich kenne. Die enge Zusammenarbeit im Team lasse oft großes Vertrauen untereinander und starke persönliche, nahezu familiäre Bindungen entstehen. In Krisenzeiten bewähre sich dieser Zusammenhalt. Wobei das Handwerk meist besser vor Krisen geschützt sei als andere Branchen. Der sprichwörtliche „goldene Boden“ habe seine Berechtigung. Die Arbeitsplätze seien dort im Regelfall sehr sicher.
Moderator Bernd Münzenhofer, Beauftragter für Handwerks- und Sozialpolitik im Kolpingwerk, ließ auch einen Handwerksgesellen, der auf Wanderschaft unterwegs ist, und einen Inhaber eines Handwerksbetriebes in Hennef zu Wort kommen. Aus dem Publikum kamen Nachfragen an die Podiumsteilnehmer.

„Keine Zeit mehr!“

Die Lage im Handwerk ist schwierig – für die Betriebe, aber nicht weniger für deren Kunden. Die Herausforderungen wachsen. „Wir haben eigentlich keine Zeit mehr“, sagte Kreishandwerksmeister Thomas Radermacher. Deshalb sind jetzt alle gefragt: die Bürger, um mit alten Klischees aufzuräumen und die Vorteile des Handwerks anzuerkennen; die Verantwortlichen im Handwerk, um Aus- und Fortbildung modularer zu gestalten; die Politiker, um der Gleichwertigkeit der Bildungswege die notwendige Anerkennung und Ausstattung zuzugestehen; der Bundesarbeitsminister, um 2,6 Millionen jungen Menschen ohne Abschluss die Wege zu einer beruflichen Zukunft zu ebnen.

Martin Grünewald