Liebe Fans, Freunde, Interessierte,
mittlerweile neigt sich das Lager nicht nur langsam, sondern bedrohlich schnell dem Ende entgegen. Wir haben jetzt Dienstagabend, der erste Teil des Abendprogramm ist beendet und es folgt nun noch die Nachtwanderung, wir warten auf die Dunkelheit, dann geht es gleich los. Aber erst einmal der Reihe nach…
Nachdem wir Sonntagabend in Brasilien die heißbegehrte Weltmeister-Trophäe gewonnen haben, machten wir uns montags etwas verspätet auf, die Gipfel des Himalayas zu erklimmen, Nepal war unser Ziel. Am Fuße der gigantischen Gebirgskette war für den Transportweg Endstation, hier führte keine Straße mehr hoch, geschweige denn eine Bahn. Für Hubschrauber stellte sich die Strecke aufgrund der schlechten Sicht als zu gefährlich dar, eine Landebahn für Flugzeuge war nicht vorhanden, das bedeutete: Wandern. Zu Fuß. Per pedes. Die meisten hatten sich schon auf eine ruhige Durchreise vom sonnigen Südamerika ins hochgelegene Nepal gefreut, Pustekuchen, nun hieß es, Siebenmeilenstiefel schnüren, Hacken zusammen und losgewandert! Das Lager ist schließlich kein Ponyhof und geschenkt gibt?s hier schon einmal gar nichts, also ab dafür.
Dieser Weg würde kein leichter sein, dieser Weg würde steinig und schwer,…bah! Was ein bescheuertes Lied, aber die beiden Zeilen passten auf unsere Wanderung wie die Faust aufs Auge.
Gegen frühen Nachmittag erreichten wir dann endlich unser Zwischenziel, ein abgelegenes Bergkloster, bei dem wir Unterschlupf suchen und uns mit leckeren Schnitzelbrötchen (…die Nepalesen…Nepalier? Nepalitaner?…wie auch immer, sagen ?Schnitzelblödchen?) stärken konnten, sodass es nach kurzem Aufenthalt gestärkt auf die Weiterreise Richtung Camp auf 8000 Meter Höhe gehen konnte. Einige schwächelten, doch alle schafften es, am Nachmittag erreichten wir den Ort unserer Bestimmung, ein Lager mit Zelten in höchster Höhe, mit dünner Luft, aber großartigem Ausblick auf die Landschaft des Himalaya, seltsamerweise hatte der Zeltplatz verblüffende Ähnlichkeit mit unserem Dinklager Platz…
Vorm Abendessen vertrieben wir uns die Zeit noch mit dem beliebten ?Chaosspiel?, bei dem auf 100 Zetteln verteilte Wörter gefunden, entschlüsselt und dazu gehörende Fragen beantwortet werden müssen, im wahrsten Sinne des Wortes ein riesiges Chaos. Doch auch hier behielten die Kinder kühlen Kopf und schafften es am Ende, das Rätsel zu lösen, verdienter Lohn: ein top Abendessen, bestehend aus Reibeplätzchen (siehe auch: ?Kartoffelpuffer?, ?Bruzzeltaler? oder ?eine Kelle Kartoffelberg von Helle, dem Pantoffelzwerg?), dazu Salat an Sylter Soße und als Nachtisch Lecker mit was drauf – ein Traum!
Was dann folgte, ist bei den meisten eher gefürchtet denn beliebt. Auch das Lager ist alles andere als ein rechtsfreier Raum, gerade hier gelten Gesetze, herrscht der Notwendigkeit wegen manchmal eine Demokratie mit peripher autokratisch wirkendem Anschein, doch niemals diktatorisch oder gar demagogisch, alles in angemessenem Rahmen und in Kongruenz mit den Genfer Menschenrechtskonventionen, mittelalterliches Strafmaß wird nur in den seltensten, die Todesstrafe nicht unter fünf Jahren angewendet. Alles in allem kann man sagen, eine Oligarchie mit Hang zum Wohlfahrtsstaat und teilweise sozialistischen Auswüchsen. Aber – um wieder auf den Punkt zu kommen – Gesetze gibt es! Und um die Einhaltung dieser kümmern sich während der Zeit im Lager die Leiter und um die Sanktionierung am Ende das Lagergericht, in diesem Jahr wieder besetzt durch den gefürchteten Richter Dr. Gnadenlos und seinen Staatsanwalt Knecht Ruprecht, verteidigende Gremien gibt es nicht, allein die Angeklagten haben die Möglichkeit, die ihnen vorgeworfenen Delikte zu kommentieren, zuzugeben oder ggf. abzustreiten, die Chance auf Freispruch tendiert allerdings im Allgemeinen gegen null.
Dieses Lagergericht wurde mit insgesamt acht Anklagen gegen Kinder, Leiter und Küche abgehalten, u.a. kamen dabei Straftaten wie Diebstahl, Körperverletzung, versuchte Tierquälerei, Ordnungswidrigkeiten, ja sogar das Verhalten spätrömischer Dekadenz zum Vorschein und wurden knallhart und mit eiserner Hand des Gesetzes bestraft, Exempel wurden statuiert, Justitias Waage wieder ins Gleichgewicht gebracht. Mit reinem Gewissen konnten also alle schlafen gehen, um sich fit zu machen für die letzte Etappe unserer Weltweise, einen Trip zum Nordpol, womit wir beim Dienstag angekommen wären. Die Reise dahin war vergleichsmäßig einfach, mussten wir auf der Weltkugel nur noch ein paar Stufen höher klettern, um ganz im hohen Norden ankommen zu können. Wie jeder weiß, dreht sich die Erde, also erklommen wir den höchsten Gipfel des Himalayas, den Mount Everest, und warteten oben auf der Spitze, bis sich der Nordpol vorbeidrehte und wir bequem aufsteigen konnten. Manchmal machen wir?s eben auch nicht kompliziert.
Morgens wurde die Zeit mit Gruppenprogramm verbracht, sich ausgeruht, Fußball und Volleyball gespielt, sich geschminkt und mit Kreide der Asphalt auf dem Zeltplatz verschönert, bevor die Küche mittags einen weiteren Trumpf ausspielte: Leckerer GulArsch mit Kartoffeln und Rotkohl, als Nachtisch Wassereis,…als ob es davon am Nordpol nicht schon genügend gäbe…aber egal, geschmeckt hat es allen. Was uns nachmittags passierte, werdet ihr vermutlich nicht glauben, aber wir haben den Weihnachtsmann da oben in der Sommerpause getroffen! Wirklich! Also ganz wirklich! Also ganz ernsthaft wirklich-wirklich, doppeltes Ehrenwort! Und er hatte ein Problem, alle seine Rentiere waren krank und er befürchtete, dass er es in sechs Monaten nicht schaffen würde, alle Tieren wieder gesund zu bekommen und Weihnachten dadurch überhaupt stattfinden lassen zu können. Darum bat er uns um Hilfe, angekommen als harmlose Touristen wurden wir nun zu Rettern in der Not. An vielen Stationen am Nordpol wurde in Gruppen nach dem Mittel gesucht, die Tiere schnell gesund zu bekommen, manches Rätsel musste gelöst werden, manch kryptischer Hinweis entschlüsselt, doch, wenn es um Weihnachten geht, dann gibt man schon einmal etwas mehr als 100 Prozent. Und was soll ich euch sagen: Weihnachten fällt dieses Jahr NICHT aus, wir haben alles geschafft, Geschenke sind wieder da, Medizin wurde verteilt, die Rentiere sind wieder gesund und der Weihnachtsmann unserer Hilfe sei Dank bei guter Laune, alles ist in bester Ordnung.
Wie anfangs beschrieben, ist gerade der Programmpunkt der Nachtwanderung angefangen, der Platz ist leer, alle Kinder und Leiter sind unterwegs, nur noch Eugen sitzt alleine im dunklen Kabuff an seiner Olivetti Lettera 22 Schreibmaschine und hackt die letzten Lagerinformationen in die Tasten.
Ich hoffe, euch hat auch in diesem Jahr das Lagertagebuch wieder Spaß gemacht, ich konnte nicht immer fristgerecht liefern, weil auch ein Eugen nicht nur fürs Schreiben da ist, sondern auch im Lager tatkräftig mitanpacken muss. Aber über das meiste wurdet ihr, so denke ich, informiert und habt alles Wichtige mitbekommen. Viele Fotos, Berichte der Kinder usw. wird es ja nach dem Lager eh noch geben, von daher freue ich mich hiermit verkünden zu dürfen, dass die fast letzten offiziellen Zeilen zu E-Papyrus gebracht wurden, ich mich vermutlich morgen noch einmal mit einer Verabschiedung melden werde und euch vielleicht noch ein Abschluss-Resümee am Mittwochabend hinterher sende.
Das war?s für Montag und Dienstag von mir, derzeit noch vom Nordpol, eine gute Nacht, machtet jot, liebe Nachbarn, bis dann!
EUER EUGEN HEMMINGWAY, Träger des Literatur-Knobelpreises 1995 u. 2001