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Geschichte des Kolpingwerkes

Zur Geschichte des Kolpingwerkes (1846-1990)

Die Kolpingsfamilie von heute ist nicht mehr der Katholische Gesellenverein von einst; das gegenwärtige Kolpingwerk weist in seinen Strukturen und Aktivitäten andere Akzente auf als der Verband in früheren Zeiten. Eben diese Unterschiede führen doch immer wieder zu der Frage, was denn unsere Arbeit heute mit den eigentlichen Wurzeln, nämlich dem Wollen und Handeln Adolph Kolpings zu tun habe, ob wir heute wirklich (noch) auf dem von Adolph Kolping geschaffenen Fundament ruhen bzw. von ihm aus unsere Arbeit gestalten. Diese Frage müssen wir uns nicht nur gefallen lassen, wir müssen uns ihr auch stellen, um unser Wollen nach innen wie nach außen überzeugend darstellen zu können. Für die Beantwortung einer solchen Frage ist zunächst sicherlich die Beschäftigung mit Adolph Kolping selbst erforderlich, mit seinem Leben und Wirken, seiner Zeit und seinen Zielsetzungen. In einem zweiten Schritt aber ist es sinnvoll, gewissermaßen im Zeitrafferverfahren, sich die Geschichte unseres Verbandes vor Augen zu führen, um besser verstehen zu können, daß und warum sich in der konkreten Ausprägung verbandlicher Arbeit Entwicklungen und Wandlungen ergeben haben und immer wieder auch künftig ergeben werden. Das Kolpingwerk steht ja nicht isoliert in der Welt, sondern ist eingebunden in die vielfältigen Zeitverhältnisse, die es zugleich ja mitgestalten und verändern will. Von daher kommt zwangsläufig die Notwendigkeit auch im Verbandsleben selbst, Veränderungen in Kirche, Gesellschaft und Politik Rechnung zu tragen, ohne dabei notwendigerweise den Bezug zu den eigentlichen Wurzeln zu verlieren.
1846 -1865
Eine erste Epoche in der Geschichte unseres Werkes ist mit dem Wirken Kolpings selbst verbunden bzw. durch dieses Wirken geprägt, von der Gründung des ersten Gesellenvereins in Elberfeld 1846 bis zum Tode Adolph Kolpings am 4.12.1865. In diesen wenigen Jahren entstanden mehr als 400 Gesellenvereine in Deutschland, in zahlreichen europäischen Ländern und sogar schon in Nordamerika. Die rasche Ausbreitung des Katholischen Gesellenvereins macht deutlich, daß Kolpings Idee im wahrsten Sinne des Wortes zündete. Diese Idee traf gewissermaßen ein aktuelles Bedürfnis der Menschen, so daß sie sich in doch relativ kurzer Zeit geradezu lawinenartig verbreiten konnte. In dieser Zeit des Umbruchs und der Industrialisierung, des Zerbrechens alter Ordnungsgefüge und des Suchens nach neuen Orientierungen, weltanschaulicher Konkurrenz und materieller Not bot das Werk vielen jungen Menschen eine willkommene Chance, sich in familienhafter Gemeinschaft, im Kreise Gleichgesinnter zu treffen, gemeinsam an sich selbst und für andere zu arbeiten, sich in vielfältigen Formen von Bildungsarbeit, Aktion und Geselligkeit nicht nur die Zeit zu vertreiben, sondern im umfassenden Sinne des Wortes Hilfe und Anregung für die personale Entfaltung in allen Lebensbereichen zu empfangen und auch zu geben. Jedenfalls kann man davon ausgehen, daß schon zu Lebzeiten Kolpings mehr als hunderttausend junge Menschen die “Schule” des Gesellenvereins durchlaufen hatten und damit wichtige Impulse für ihre Lebensgestaltung als tüchtiger Christ empfangen hatten.
Verbindlicher Rahmen
Sicherlich war Adolph Kolping selbst der treibende Motor für die Ausbreitung des Werkes, insbesondere durch Reisen, Reden und das geschriebene Wort. Aber auch die wandernden Gesellen nahmen hier entscheidenden Anteil, in dem sie sich tatkräftig bemühten, an “neuen” Orten Vereine zu gründen. Bei aller Spontaneität vollzog sich diese Ausbreitung doch nicht ungeregelt; von Anfang an bemühte sich Kolping selbst um klare und verbindliche Grundlagen für das Werk. Schon 1850 entstand der eigentliche Verband als Zusammenschluß der ersten Vereine Elberfeld, Köln, Düsseldorf), der sich ein allgemeines Statut (Generalstatut) gab, welches einen verbindlichen Rahmen für die Verbandsarbeit absteckte. Bei den jeweiligen Generalversammlungen des Verbandes wurden diese Regelungen immer wieder diskutiert und den Gegebenheiten angepaßt.
Besonders wichtig waren die Generalversammlungen der Jahre 1858 und 1864, weil hier grundlegende Strukturen geschaffen wurden, die im Kern bis heute bestehen. Seit dieser Zeit sind die Kolpingsfamilien innerhalb eines Bistums in einem Diözesanverband zusammengeschlossen. Die Kolpingsfamilien bzw. Diözesanverbände innerhalb eines politisch selbständigen Landes bilden einen Zentralverband, alle Zentralverbände bilden das Internationale Kolpingwerk mit dem Generalpräses . Damit ist die enge Anbindung an kirchliche Strukturen einerseits, aber auch die Berücksichtigung politischer Verhältnisse andererseits grundgelegt, die ja für den Verband bis heute kennzeichnend ist.
Berufliche Weiterbildung
Für alle Mitglieder gab es das sogenannte Wanderbuch als einheitlichen Mitgliedsausweis, eine Wanderordnung regelte die mit dem aufgrund der Wanderschaft durchaus häufig eintretenden Vereinswechsel zusammenhängenden Fragen. Die örtlichen Belange des Gesellenvereins wurden im Ortsstatut geregelt, das sich in die allgemeinen Bestimmungen des Generalstatuts einfügen mußte. Von Anfang an gehörte die Verpflichtung zur Beitragsleistung zum Vereinsleben, ebenso wie das Recht der Mitglieder zur Wahl der Leitungskräfte, auch dies Elemente, die bis heute Bestand haben. Wer Mitglied werden wollte, mußte sich einer mindestens halbjährigen Probezeit unterziehen, und auch später wurde schon darauf geachtet, daß die Mitglieder regelmäßig an den Veranstaltungen des Vereins teilnahmen.
Die Mitgliedschaft war in dieser Zeit und auch später noch auf ledige männliche Handwerksgesellen beschränkt, wer heiratete oder sich selbständig machte, schied zwangsläufig aus. Der Begriff darf allerdings nicht zu eng verstanden werden, auch Arbeitnehmer der Industrie, die ein Handwerk erlernt hatten, konnten Mitglieder des Gesellenvereins werden. Das Vereinsleben trug trog aller lokalen Unterschiedlichkeiten doch gewisse einheitliche Zuge, geprägt durch eine breit angelegte Bildungsarbeit einerseits und vielfältige Formen der Geselligkeit andererseits. In der Bildungsarbeit standen allgemeinbildende Themen – mit berufsbezogener Orientierung – und die religiöse Bildung im Vordergrund, weiterhin gab es mehr fachlich orientierte Angebote, auf bestimmte Berufsgruppen hin ausgerichtet. Von Anfang an drängte Kolping alle Gesellenvereine, sich nach Möglichkeit ein eigenes Haus zu verschaffen, was nicht nur wandemden Gesellen als Heimat dienen sollte, sondern zugleich das Zentrum des Vereinslebens sein konnte. Das erste eigene Haus erwarb der “Mutterverein” in Köln schon im Jahre 1852.
Meinungs- und Willensbildung
Adolph Kolping wußte um die Bedeutung der innenverbandlichen Kommunikation, sowohl im Hinblick auf einen lebendigen und fruchtbaren Austausch zwischen den einzelnen Gliedern der Gemeinschaft als auch im Blick auf gemeinsame Prozesse der Meinungs- und Willensbildung zur Sicherung der notwendigen Einheit und zur angemessenen Weiterentwicklung verhandlicher Aktivitäten und Organisationsformen. Neben dem unmittelbaren persönlichen Kontakt, Konferenzen und Versammlungen maß er in diesem Bereich der Verbandspublizistik eine besondere Bedeutung zu. Schon ab 1850 gab es ein eigenes Vereinsorgan, zunächst noch als Beilage zum Rheinischen Kirchenblatt, ab 1854 dann als eigene Zeitschrift “Rheinische Volksblätter”, die weite Verbreitung im Gesellenverein und darüber hinaus fanden. Speziell für Führungskräfte war ein anderes Organ konzipiert, das Kolping 1863 begründete, die Mitteilungen für die Vorsteher der katholischen Gesellenvereine. Auch in diesem Bereich stoßen wir also auf Elemente – Mitgliederzeitung und Führungskräftezeitschrift -, die, wenn auch mit vielfältigen Änderungen, bis heute fortwirken.
Adolph Kolping gab seinem Werk die Devise mit auf den Weg, die eigene Arbeit auf klare Grundlagen zu stellen, die nach innen wie nach außen deutlich gemacht werden sollten, um niemanden im unklaren darüber zu lassen, was der Gesellenverein wollte. Er wies aber darüber hinaus darauf hin, daß es immer wieder auch notwendig sei, in der konkreten Ausfaltung des eigenen Tuns den gegebenen Verhältnissen Rechnung zu tragen und entsprechend auch offen zu sein für Entwicklungen und Veränderungen im Verband selbst.
1865-1901
Die Jahre und Jahrzehnte nach Kolpings Tod können mit den Stichworten “Wachstum” und “Kontinuität” recht gut gekennzeichnet werden. Die Ausdehnung des Verbandes setzte sich ununterbrochen fort, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen stieg die Zahl der vorhandenen Kolpingsfamilien (Gesellenvereine) in allen Regionen, wo das Werk einmal Fuß gefaßt hatte; zum anderen faßte das Werk Adolph Kolpings immer wieder auch Fuß in neuen Gebieten, so daß bis zum Ende des Jahrhunderts doch große Teile Europas mit einem Netz von Gesellenvereinen überzogen waren.
Eine durchaus eigenständige Entwicklung nahm das Kolpingwerk in den Niederlanden, wo sich seit Ende der 60er Jahre in zunehmender Zahl Vereine herausbildeten unter dem Namen “St. Josefs-Gesellenvereine” Ansonsten orientierte sich das Werk doch sehr stark auf den deutschsprachigen Bereich, Gesellenvereine im nicht-deutschsprachigen Ausland waren vielfach Treffpunkt und Heimat wanderoder Gesellen aus den deutschsprachigen Ländern. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, daß in vielen europäischen Ländern in damaliger Zeit – zum guten Teil auch bis heute – ein katholisches Vereins- oder Verbandswesen praktisch unbekannt war und ist, während sich gerade in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Teil Europas in dieser Zeit ein reichhaltiges Vereinsleben innerhalb der katholischen Kirche entfaltete, das ja bis heute zu einem typischen Merkmal der Kirche zählt.
Zusätzliche Aufgabenfelder
Die Aktivitäten des Gesellenvereins mit der breiten Palette von religiöser, allgemeiner und berufsbezogener Bildungsarbeit und dem breiten Spektrum geselliger Veranstaltungen erfuhren in diesen Jahrzehnten keine wesentlichen Veränderungen. Auch Struktur bzw. Organisation des Verbandes änderten sich wenig – deutlich z. B. in der Tatsache, daß das Generalstatut in der Fassung von 1864 für viele Jahrzehnte nahezu unverändert blieb. Mit dem Wachstum des Werkes und der damit verbundenen inneren Konsolidierung ergaben sich aber auch zusätzliche Aufgabenfelder bzw. wurden von Kolping grundgelegte Initiativen und Aktivitäten weiter ausgebildet.
In größeren Diözesanverbänden setzte bereits etwa in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Herausbildung von Bezirksverbänden ein, um ein praktisches Zwischenglied zwischen der Diözesanebene und der örtlichen Gemeinschaft zu haben. In verschiedenen Vereinen entwickelten sich Formen des Zusammenschlusses ehemaliger Mitglieder (Altmitglieder), die aufgrund von Heirat oder der Gründung einer selbständigen Existenz den Verein hatten verlassen müssen, ihm aber weiterhin verbunden bleiben wollten; ebenso gab es verschiedene Ansätze einer Arbeit mit Lehrlingen als eine Art Vorstufe zum Gesellenverein. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß der Gesellenverein sich auf ledige männliche Handwerksgesellen beschränkte, nur diesen die volle Mitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten zuerkannte, wo hingegen Lehrlinge und Meister – ob selbständig oder nicht – noch nicht bzw. nicht mehr zur Mitgliedschaft zählten, ebensowenig verheiratete Gesellen. Diese enge Begrenzung der Mitgliedschaft hatte den großen Vorteil, daß sich der Verband auf eine klare Interessenvertretung einer sehr homogenen Zielgruppe konzentrieren konnte und dementsprechend ein sehr deutliches Profil aufwies; auf der anderen Seite war dann eine ziemlich natürliche Konsequenz, daß sich die “Ehemaligen” bemühten, in geeigneter Weise die Verbindung zum Verein aufrecht zu erhalten.
Selbsehilfeeinrichtungen
Ein weiterer Aspekt der Verbandsentwicklung ist der Ausbau von Selbsthilfeeinrichtungen, wie sie Adolph Kolping grundgelegt hatte. Besonders zu nennen sind hier die Sparkassen und die Krankenkassen des Gesellenvereins, die zu hoher Blüte gelangten – was nicht verwundern kann in einer Zeit, wo das uns heute so selbstverständliche System sozialer Sicherheit und versicherungsmäßiger Absicherung vielfältigster Lebensrisiken im ganz allgemeinen Sinne weithin unbekannt bzw. gerade erst im Aufbau befindlich waren. Jedenfalls verfügte der Verband über ein breites Instrumentarium von Einrichtungen, die in ganz praktischer Weise – über die Vereinstätigkeit im engeren Sinne hinaus – dem Einzelnen Hilfestellung zu leisten vermochten.
In diesem Zusammenhang dürfen auch die Fachabteilungen nicht unerwähnt bleiben, die sich gegen Ende des Jahrhunderts herausbildeten. Besonders in den größeren Vereinen entstanden überall Fachabteilungen, wo den Angehörigen verschiedener Berufszweige spezifische Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten wurden, insbesondere zur Vorbereitung auf die Meisterprüfung. Hier leistete der Katholische Gesellenverein ganzen Generationen von Handwerkern einen unersetzlichen Dienst für die berufliche Qualifizierung und damit insgesamt für Chancen und Stellung in Gesellschaft.
Äußere Probleme
Der erfolgreiche Weg des Katholischen Gesellenvereins konnte auch durch äußere Probleme nicht aufgehalten werden. Solche Probleme gab es durchaus in dieser Zeit, insbesondere in den Jahren des sogenannten Kulturkampfes, wo sich die Katholische Kirche in Deutschland (besonders in Preußen) sehr massiven Beeinträchtigungen von staatlicher Seite ausgesetzt sah und der Verband klug taktieren mußte, um die eigenen Wirkmöglichkeiten nicht zu gefährden. Eine andere schwere Belastungsprobe hatte der Gesellenverein schon ein Jahr nach dem Tod seines Gründers verkraften müssen: Preußen und Österreich führten Krieg gegeneinander – Mitglieder des Gesellenvereins mußten hüben wie drüben in den Kampf ziehen. Nicht zuletzt der politische Bedeutungszuwachs des Sozialismus stellte für den Verband eine wichtige Herausforderung dar, denn der Gesellenverein – ebenso wie die katholischen Arbeitervereine – fand sich als Sachwalter des arbeitenden Menschen in zunehmendem weltanschaulichen Konkurrenzkampf mit anderen Gruppierungen bzw. Bewegungen, wo es schon galt, mit klaren Positionen Farbe zu bekennen, und wo es entsprechend darauf ankommt, die eigenen klaren Positionen nach innen wie nach außen zu verdeutlichen und überzeugend darzustellen.
Ausdrücklich verstand sich der Verband in jener Zeit als Teil der katholischen Sozialbewegung, die angetreten war, aus ihrer religiösen Oberzeugung heraus einen Beitrag zur Lösung sozialer Fragen zu leisten. Fragen von grundsätzlicher Bedeutung standen von daher auch immer wieder auf der Tagesordnung von Konferenzen überörtlicher Ebene bis hin zu den Generalversammlungen des Gesamtverbandes. Daß das Erscheinen der ersten päpstlichen Sozialenzyklika “Rerum novarum” im Jahre 1891 seitens des Gesellenvereins nachdrücklich begrüßt wurde, kann nicht verwundern, denn schließlich hatte sich der Verband bereits über viele Jahrzehnte hindurch ganz praktisch und recht erfolgreich mit den akuten sozialen Fragen und Problemen der Zeit auseinandergesetzt.
Sebastian Georg Schäffer
Fragt man nach abgrenzbaren Epochen in der Verbandsgeschichte, so kann die Zeit von 1865 bis 1901 eine solche Epoche darstellen. An der Spitze des Verbandes bemühte sich in diesen 36 Jahren Generalpräses Sebastian Georg Schäffer um die Bewahrung des Kolpingschen Erbes bzw. um die zeitgerechte Anpassung des Werkes ohne Verzicht auf die bestimmenden Grundlagen. Gerade seine lange Amtszeit stellte die in schwierigen Zeiten notwendige Kontinuität sicher; seine enge persönliche Verbundenheit mit Adolph Kolping sicherte ihm als erstem Nachfolger die erforderliche Autorität. Der Tod Schäffers kurz nach der Jahrhundertwende markiert einen wichtigen Einschnitt in der Verbandsgeschichte. Die nächsten Jahrzehnte sind – bedingt auch durch politische und gesellschaftliche Veränderungen – geprägt durch raschen und vielfältigen Wandel, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg.
1901 – 1933
Das neue Jahrhundert beginnt für das Kolpingwerk mit gravierenden Beschlüssen bzw. Ereignissen. Am 1.1.1901 erscheint erstmalig das Kolpingblatt als Verbandsorgan, es tritt die Nachfolge der noch von Kolping gegründeten Rheinischen Volksblätter an. Am 16. November dieses Jahres stirbt Generalpräses Schäffer, der 35 Jahre lang an der Spitze des Verbandes gestanden hatte. Im September 1902 beschließt die Generalversammlung die Einrichtung des Generalsekretariates, also einer Verbandszentrale, ebenso die Einführung eines Verbandsbeitrages und die Einrichtung des Generalrates, der dem Generalpräses als Leitungsorgan an die Seite gestellt wird. Am 12. Juli 1903 wird das Kolpingdenkmal vor der Minoritenkirche in Köln eingeweiht, das – ebenso wie das Grab Kolpings in der Minoritenkirche – seither zu den am meisten besuchten Gedenkstätten in Köln gehört.
Die organisatorischen Neuerungen sind Ausdruck des Wachstums und der Konsolidierung des Werkes in den vergangenen Jahrzehnten. Dieses mittlerweile über viele Länder verbreitete Werk bedarf einer tragfähigen organisatorischen und auch finanziellen Absicherung, um auch für Zukunftsaufgaben angemessen gerüstet zu sein. In diesem Zusammenhang stehen auch intensive Bemühungen der Folgezeit, den vielfältigen lokalen Einrichtungen des Verbandes festere und dadurch auch wirksamere organisatorische Rahmenbedingungen zu schaffen. Hier ist z. B. die Einführung einer Zentral-Sterbekasse 1904 zu nennen, ebenso die Gründung der St. Josephs-Krankenunterstützungskasse 1909 als Zusammenschluß der vielen örtlichen Krankenkassen in den Gesellenvereinen. Der Gesamtverband trägt seit 1907 die offizielle Bezeichnung “Verband katholischer Gesellenvereine”, der Generalrat wird in eine juristische Person umgewandelt und damit zum Vermögensträger des Verbandes. Im Blick auf die inhaltliche Qualifizierung der Verbandsarbeit ist vor allem die zum 1. Januar 1914 erfolgte Einführung der Zeitschrift “Der Führer” zu nennen als Führungszeitschrift für die verantwortlichen Leitungskräfte des Verbandes neben den schon lange bestehenden Mitteilungen für die Präsides. Nicht zu vergessen ist für diesen Zeitraum schließlich die vom 8. August 1906 datierte Anregung des Wiener Erzbischofs Gruscha, einer der engsten Vertrauten und Freund Adolph Kolpings, den Seligsprechungsprozeß für Adolph Kolping zu eröffnen.
Der 1. Weltkrieg
Während des 1. Weltkrieges 1914-1918 kommt die Verbandsarbeit weithin zum Erliegen, denn mehr als zwei Drittel aller Mitglieder sind zum Kriegsdienst einberufen, fast jeder Dritte von ihnen kehrt nicht wieder nach Hause zurück. Nach dem Krieg erlebt die Arbeit des Katholischen Gesellenvereins einen raschen Aufschwung, wiederum kommt es zu zahlreichen Neugründungen, auch außerhalb Europas. Die wesentlichen inhaltlichen Akzente der Arbeit bleiben ebenso unverändert wie die traditionelle Zielgruppe der ledigen männlichen Handwerksgesellen.
Gewandelte Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft auf nationaler wie internationaler Ebene bringen aber doch gewichtige Chancen und Herausforderungen für das Kolpingwerk mit sich. Das neue demokratische System in Deutschland (Weimarer Republik) eröffnet dem Verband erstmalig wichtige Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe am politischen Leben, die auch engagiert wahrgenommen werden. Im Verband selbst findet dieser Demokratisierungsprozeß seinen sichtbaren Ausdruck darin, daß seit 1921 den Vertretern der aktiven Mitglieder das Recht zur Teilnahme an den Generalversammlungen gegeben wird, was über viele Jahrzehnte hinweg seit Kolpings Tod nur den Präsides vorbehalten gewesen war. Die Generalversammlung 1921 formuliert erstmalig ein Programm für das Kolpingwerk, ebenso werden in den 20er Jahren die Generalstatuten neu gefaßt, gerade auch im Hinblick auf die Gründung und Eigenständigkeit der Zentralverbände. Schon 1922 entsteht der ungarische Zentralverband, 1923 der Zentralverband USA, 1926 der sudetendeutsche Zentralverband (Tschechoslowakei), 1927 der rumänische Zentralverband, 1928 der Zentralverband Südtirol. Der deutsche Zentralverband entsteht ebenfalls 1928 bei einer ersten gemeinsamen Tagung der Diözesanpräsides und der Mitgliedervertreter der Diözesanverbände. 1929 findet die erste deutsche Zentralversammlung statt, die aus den Diözesanpräsides und den Diözesansenioren besteht. Sie beschließt über das erste Zentralstatut dieses neuen Zentralverbandes.
Erst in diesen Jahren bildet sich also die klare Unterscheidung zwischen den einzelnen selbständigen Zentralverbänden auf der einen und dem Gesamtverband (heute Internationales Kolpingwerk) auf der anderen Seite heraus, wobei sich nach und nach die Aufgaben und Kompetenzen der internationalen Gremien auf die Behandlung mehr grundsätzlicher Fragen konzentriert, während die konkrete Ausformung der verbandlichen Aktivitäten in immer stärkerem Maße durch die jeweiligen Zentralverbände verantwortet wird. Das internationale Werk wird über die Generalversammlungen hinaus insbesondere bei den großen internationalen Gesellentagen sichtbar, deren erster 1922 in Köln stattfindet, der zweite 1927 in Wien. Im Grunde läßt sich – insbesondere dann ab 1933 – keine einheitliche Geschichte des Kolpingwerkes mehr schreiben, zumindest sind die Entwicklungen der einzelnen Zentralverbände intensiver zu verfolgen, die doch – bei aller Einheitlichkeit im grundsätzlichen – stärker ihren eigenen Bahnen folgen im jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Zusammenhang.
Ein sichtbarer und bis heute gültiger Ausdruck für die Gemeinsamkeit im gesamten Kolpingwerk ist das K-Zeichen, das als offizielles Verbandssignet zum 1.1.1928 eingeführt wird. Ein ganz anderes Zeichen für die Geschlossenheit und Wirksamkeit des Verbandes ist das “Haus des Gesellenvereins” in Köln am Kolpingplatz, das am 20. Juli 1930 als Verbandszentrale (Generalsekretariat) eingeweiht wird. Im Bereich des deutschen Zentralverbandes sind im hier behandelten Zeitraum neben dem weiteren Ausbau organisatorischer Rahmenbedingungen (z. B. die Gründung des “Reichsverband der katholischen Gesellenhäuser” 1923, die Gründung eines zentralen Arbeitsnachweises 1927 und die Bildung der Arbeitsgemeinschaft der Fachabteilungen 1932) vor allem die intensiven Bemühungen um die Führungskräfteschulung hervorzuheben. Schon 1921 fand die erste Bildungswoche für Vorstandsmitglieder statt, solche Führungskräfteseminare, aus denen nicht wenige bedeutende Persönlichkeiten in Politik und Gesellschaft hervorgegangen sind, gab es von nun an in regelmäßigen Abständen, seit 1929 verfügte der Verband über ein eigenes Schulungsheim in Kerpen.
Nationalsozialismus
In zunehmendem Maße wurde die Entwicklung des Kolpingwerkes in Deutschland allerdings geprägt durch das machtvolle Aufkommen des Nationalsozialismus, besonders nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933. Die gewaltsame Beendigung des deutschen Gesellentages in München im Juni 1933 machte sehr rasch deutlich, daß – entgegen manchen Erwartungen – seitens der neuen Machthaber eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der katholischen Sozialbewegung in organisierter verbandlicher Form nicht zu erwarten war, ja daß letztlich nicht einmal die Aussicht bestand, die eigenen Aktivitäten ungehindert weiterverfolgen zu können. In zunehmendem Maße wurde die Arbeit des Verbandes behindert, wurden Kolpingsfamilien oder ganze Diözesanverbände aufgelöst, Vermögenswerte enteignet, der Zugang von Neumitgliedern erschwert, die Veröffentlichung verbandlichen Schrifttums behindert oder ganz unterbunden und vieles andere mehr, so daß das Verbandsleben im Laufe der Jahre, insbesondere nach dem Kriegsausbruch 1939, weitestgehend zum Erliegen kam. Präsides und Mitglieder des Kolpingwerkes haben in diesen schweren Jahren ihr Engagement für die Sache Adolph Kolpings mit beruflichen Nachteilen, mit Haft oder sogar mit dem Leben bezahlt.
Radikale Maßnahmen
Angesichts der schon eingetretenen bzw. noch zu erwartenden oder befürchtenden Entwicklungen entschloß sich die deutsche Zentralversammlung im September 1933 zu radikalen Maßnahmen, die ein Überleben des Verbandes ermöglichen bzw. sicherstellen sollten. Der bisherige Gesellenverein wurde zur Gruppe Kolping; die “Ehemaligen’ also Mitglieder, die durch Heirat oder Erlangung der wirtschaftlichen Selbständigkeit aus dem Verein hatten ausscheiden müssen, wurden zur Gruppe Altkolping, erhielten also einen regulären Mitgliedsstatus diese beiden Gruppen bildeten fortan gemeinsam die Kolpingsfamilie. Denn ursprünglichen Gesellenverein war also gewissermaßen eine zweite Säule der Mitgliedschaft an die Seite gestellt, wobei sich die Arbeit dieser beiden Gruppen unter dem gemeinsamen Dach durchaus in weitestgehender Eigenständigkeit vollziehen sollte. Der entscheidende Gedanke bei dieser Neukonstruktion war die Erwartung, daß die beruflich familiär etablierten Mitglieder der neuen Gruppe Altkolping eher in der Lage sein würden, das Werk auch bei wachsenden Schwierigkeiten und zunehmendem äußeren Druck durchzutragen, nachdem sich abzeichnete, daß mit allen Mitteln versucht werden sollte, den Nachwuchs für den Gesellenverein zu unterbinden. Die weitere Entwicklung sollte zeigen daß dieser Gedanke sein Ziel erreichte. Im übrigen beschloß die genannte Zentralversammlung zwei weitere wichtige Neuerungen, nämlich zum einen die Einführung des Stammbuches als der zentralen Mitgliederverwaltung im Generalsekretariat, zum anderen die Einführung des Kolping-Gedenktages. Unter diesen Voraussetzungen ging das Kolpingwerk in die schwierigste und dunkelste Phase seiner Geschichte, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern im Gefolge der Kriegsereignisse dann auch in ganz Europa.
1933 – 1945
Die Ereignisse und Entwicklungen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dem 2. Weltkrieg haben massive Auswirkungen auf das Kolpingwerk gehabt, nicht nur in Deutschland. Das Kolpingwerk in Österreich kam mit dem deutschen Einmarsch 1938 praktisch zum Erliegen. Die Zentralverbände Holland und Belgien fielen der deutschen Besatzung 1940 zum Opfer; in den Niederlanden konnte erst nach vielen Jahrzehnten ein Neuanfang in sehr engem Rahmen gewagt werden. Blühende Zentralverbände im osteuropäischen Raum, z. B. Ungarn, Tschechoslowakei und Rumänien, gingen nach der kommunistischen Machtergreifung unter, ebenso das reich entfaltete Verbandsleben in den an die Sowjetunion bzw. Polen verlorenen deutschen Ostgebieten; nur in der DDR konnte sich das Kolpingwerk bis heute halten, wenn auch mit sehr eingeschränkten Wirkmöglichkeiten.
Verboten und beschlagnahmt
Der deutsche Zentralverband wurde als solcher zwar nicht gewaltsam unterdrückt, viele einzelne Kolpingsfamilien und auch ganze Diözesanverbände wurden aber zwischen 1933 und 1945 verboten, das Vereinsvermögen (Gesellenhäuser) weitestgehend beschlagnahmt und überhaupt die Wirkmöglichkeiten des Verbandes massiv eingeschränkt im Sinne einer Zurückdrängung auf den innerkirchlichen Bereich. Die ganze Vielfalt des gesellschaftlichen Wirkens des Verbandes selbst und auch seiner Einrichtungen kam während der Zeit des Nationalsozialismus praktisch zum Erliegen.
Die innerverbandliche Kommunikation konnte nur notdürftig und mit großen Risiken aufrechterhalten werden, größere überregionale Veranstaltungen waren nicht mehr möglich, selbst die Verbandspublizistik wurde nach und nach unterdrückt. Während der Kriegsjahre 1939 bis 1945 kam das Vereinsleben praktisch zum Stillstand. Eines gelang allerdings den Machthabern dieser Zeit nicht, nämlich die Mitglieder der Kolpingsfamilien in nennenswerter Anzahl in ihrer Treue zu Adolph Kolping und seinem Werk wankend zu machen. Zahllose Mitglieder und auch Präsides büßten ihre Treue mit massiven persönlichen Nachteilen, mit Haftstrafen oder sogar mit dem Leben. Diese Treue zu Adolph Kolping und seinem Werk war dann aber auch unmittelbar nach Kriegsende die entscheidende Voraussetzung, um sofort wieder mit dem Neuaufbau des Verbandes und mit der Wiederbelebung des Verbandslebens beginnen zu können.
Wiederaufbau
Im Bereich des deutschen und österreichischen Kolpingwerkes wurde unmittelbar nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau begonnen, und zwar im unmittelbaren wie im übertragenen Sinne. In erstaunlich kurzer Zeit gelang es, wieder tragfähige Grundlagen für eine wirksame Verbandsarbeit zu schaffen, sowohl im 315 Bereich der örtlichen Kolpingsfamilie als auch bezüglich der überörtlichen Gliederungen. Unverzüglich wird dann auch mit dem Wiederaufbau der Minoritenkirche und des Generalsekretariats begonnen, im wesentlichen mit der tatkräftigen Hilfe zahlloser Mitglieder.
In großzügiger Weise wird der Wiederaufbau des Verbandes und seiner Einrichtungen durch Hilfeleistungen aus der Schweiz und aus den USA gefördert. Schon 1947 findet wieder eine deutsche Zentralversammlung statt, ab 1946 beginnt eine rege publizistische Tätigkeit des Zentralverbandes. Ein besonders eindrucksvoller Höhepunkt der Zeit ist der Kölner Kolpingtag im Juni 1949 aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der Kolpingsfamilie Köln-Zentral mit internationaler Beteiligung. Diese Großveranstaltung läßt die Entschlossenheit des Verbandes deutlich werden, nicht nur die eigenen Aktivitäten neuerlich zu entfalten und weiterzuentwickeln, sondern auch aktiv Anteil zu nehmen an der Ausgestaltung der neuen demokratischen Ordnung.
Massive Spannungen
Mit großen Schwierigkeiten ist der Wiederbeginn im internationalen Bereich verbunden, die Frage der Nachfolge für den 1944 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommenen Generalpräses Hürth führt zu massiven Spannungen zwischen den Zentralverbänden, die bis hin zu der Forderung reichen, den Sitz des Internationalen Kolpingwerkes in ein neutrales Land zu verlegen. Der im Oktober 1945 gewählte Generalpräses Dahl tritt im September 1947 aufgrund dieser Probleme zurück, um den Weg für einen gedeihlichen Neubeginn freizumachen. Ein entscheidender Schritt auf diesem Wege gelingt mit der einmütigen Wahl von Dr. Bernhard Ridder zum Generalpräses im Oktober 1948.
1945 – 1971
Die Entwicklung im Kolpingwerk Deutscher Zentralverband nach 1945 ist durch das komplexe Wechselspiel vielfältiger Faktoren gekennzeichnet, das – zunächst fast unmerklich – einen tiefgreifenden Wandlungsprozeß nach sich zieht. In der alltäglichen Arbeit vor Ort wird zunächst versucht, an die Praxis vor 1933 anzuknüpfen, was sich allerdings sehr bald als ziemlich schwierig herausstellt. Auf der einen Seite erlebt die traditionelle berufliche Wanderschaft, die ja für den katholischen Gesellenverein und sein Wirken ein entscheidendes Element gewesen war, nach 1945 keine wirklich umfassende Wiederbelebung mehr; auf der anderen Seite ist der ursprünglich katholische Gesellenverein jetzt “nur” noch eine Gruppe (Gruppe Kolping) innerhalb der Kolpingsfamilie, neben der (zahlenmäßig oft stärkeren) Gruppe Altkolping, die aus Mitgliedern besteht, die in der Regel beruflich und familiär etabliert sind. Daraus ergeben sich natürlich erhebliche Konsequenzen für die praktische Ausgestaltung der Verbandsarbeit, für die Inhalte und Methoden der Bildungsarbeit wie auch für die Formen geselligen Miteinanders.
In diesem Zusammenhang, bedingt aber auch durch den Zustrom und die Integration vieler Millionen von Flüchtigen, kommt es zu einer großen Zahl von Neugründungen von Kolpingsfamilien. Aus dem ursprünglich ortsgebundenen Gesellenverein entsteht mehr und mehr die gemeindebezogene Kolpingsfamilie, so daß es besonders in den größeren Orten neben oder anstelle des traditionellen Zentralvereins zunehmend eine ganze Anzahl von Kolpingsfamilien mit deutlicher Gemeindeorientierung gibt. Von den zur Zeit rund 2.800 Kolpingsfamilien im deutschen Zentralverband sind weit mehr als die Hälfte in dieser Phase nach 1945 entstanden!
In dieser Umbruchsituation, die sich nicht als Ergebnis einer planvollen Steuerung darstellt, finden in zunehmendem Maße Menschen Interesse an der Mitarbeit im Verband, die nicht zur traditionellen Zielgruppe der Handwerker gehören. Die gewandelten Rahmenbedingungen verbandlicher Arbeit lassen die Mitarbeit von Menschen aus unterschiedlichen Berufen und sozialen Schichten in der sich sehr viel deutlicher als früher familienhaft und generationsübergreifend verstehenden Gemeinschaft der Kolpingsfamilie möglich und attraktiv erscheinen. Von daher setzt ein Öffnungsprozeß im Hinblick auf die Zusammensetzung der Mitgliedschaft ein, der sich bis heute kontinuierlich fortgesetzt hat. Nach Ansätzen in den 50er Jahren entwickelte sich in den 60er Jahren die Gruppe Jungkolping als dritte Altersgruppe im Verband, die dem Aspekt der lebensbegleitenden Gemeinschaft noch deutlicheren Ausdruck verleiht. Eine letzte Stufe der Öffnung des Verbandes ist 1966 erreicht, indem die Zentralversammlung die Mitgliedschaft im Kolpingwerk auch für Mädchen und Frauen öffnet.
Der hier angedeutete Wandlungsprozeß läßt sich als Übergang vom Gesellenverein zur Kolpingsfamilie charakterisieren – ein Prozeß, der sich mehr von “unten her” entwickelt hat und der dann nach und nach durch entsprechende programmatische und statutarische Regelung seine “Absicherung” gefunden hat. Im übrigen sind diese Entwicklungen auch im Kontext anderer wichtiger Vorgänge im gesellschaftlichen und kirchlichen Bereich zu sehen; stichwortartig hinzuweisen wäre auf den Auf- und Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland mit den vielfältigen Möglichkeiten und Herausforderungen aktiver gesellschaftlicher und politischer Mitwirkung von Menschen und Organisationen, zu nennen wären ebenso das 2. Vatikanische Konzil und die gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, auch und nicht zuletzt im Blick auf die stärkere Betonung der Laienmitverantwortung in der Kirche. Insofern markiert das Jahr 1971 – und hier insbesondere mit der Zentralversammlung in Bad Wörishofen – einen wichtigen Einschnitt, als ein gewandeltes Verbandsverständnis -auf der Grundlage gewandelter verbandlicher Realitäten im gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext – im programmatischen und statutarischen Bereich markant zum Ausdruck gebracht wird. Wichtige Akzente sind z. B. der Begriff “Kolpingwerk” für die überörtlichen Ebenen des Verbandes, die Einführung das Vorsitzenden-Amtes auf allen Ebenen oder auch die ausdrückliche Formulierung umfassender gesellschaftspolitischer Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Verbandes als Teil der katholischen Sozialbewegung.
Die hier für den deutschen Zentralverband angedeuteten Entwicklungen haben sich im europäischen Bereich in ähnlicher Weise – wenn auch zeitversetzt – ausgewirkt. Insgesamt hat das Internationale Kolpingwerk in den 50er und 60er Jahren im Vergleich zur Vorkriegszeit eine deutlich geringere Ausbreitung gehabt, mit der Beschlußfassung über die “Aktion Brasilien” bei der Generalversammlung 1968 ist dann allerdings der Startschuß erfolgt für eine geradezu explosionsartige Weiterentwicklung des Verbandes im internationalen Bereich. In diesem Zusammenhang erfolgt auf internationaler Ebene – etwa durch die Generalversammlung 1972 – das Bemühen um Klärung und Verdeutlichung eines neuen Selbstverständnisses, wobei den einzelnen Zentralverbänden in stärkeren Maße als früher die Regelung ihrer Angelegenheiten überlassen bzw. übertragen wird. Für den Bereich des deutschen Zentralverbandes bleibt nachzutragen, daß im Laufe der 60er Jahre wichtige neue Einrichtungen des Verbandes ins Leben gerufen werden, mit denen das Kolpingwerk – insbesondere durch die Bildungswerke und die Familienferienwerke – seinen Dienst am Menschen, und dies weit über den Kreis der Mitglieder hinaus, in aktueller und wirksamer Weise zum Ausdruck bringt.
1971 – 1990
Leben und Wirken der Kolpingsfamilie und damit auch des Kolpingwerkes gewinnen neue Attraktivität. Ein langer Abwärtstrend bei der Mitgliederentwicklung kann etwa Anfang der 70er Jahre gestoppt und dann umgekehrt werden, Jahr für Jahr wächst seither die Zahl der Mitglieder zu immer neuen Höchstmarken. Immer wieder gelingt auch die Neugründung von Kolpingsfamilien. Bei derartigen Entwicklungen spielen natürlich vielfältige Ursachen eine Rolle, wobei wohl erst dem in der Zukunft möglichen Rückblick auf die Vergangenheit ein abschließendes Urteil über die tatsächlichen Gründe und Hintergründe der Verbandsentwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten möglich sein wird. Immerhin ist festzustellen, daß diese Entwicklung zeitlich auch zusammenfällt mit einem intensiven Bemühen um Ausbau und Vertiefung des Verbandlichen Schrifttums und damit um Kenntnis von Person und Wirken Adolph Kolpings; dies wiederum steht durchaus in Zusammenhang mit dem engagierten Einsatz für die Seligsprechung Kolpings. Neben dem aktiven und offenbar auch attraktiven Leben und Wirken der Gemeinschaft entfalten auch die Verbandlichen Einrichtungen in ihren spezifischen Wirkfeldern immer breitere Aktivitäten und tragen damit dazu bei, Bekanntheit und Akzeptanz des Kolpingwerkes als eines aktiven und engagierten Sozialverbandes auszubauen, der gerade in den Bereichen der Gesellschafts-, Sozial- und Familienpolitik wichtige Schwerpunkte seines politischen Mitwirkens sieht und wahrnimmt. Sichtbaren Ausdruck findet diese Entwicklung in der Formulierung des Paderborner Programms 1976.
Das Internationale Kolpingwerk erlebt im hier behandelten Zeitraum eine rasche, bislang nicht gekannte Ausdehnung, insbesondere in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, vor allem in Lateinamerika, dann aber auch in Afrika und Asien. Erstmalig in der Verbandsgeschichte gelingt es, in größerem Maße die Ideen Kolpings tatsächlich in unterschiedlichen nationalen Kontexten umzusetzen und erfolgreich wirksam werden zu lassen. Ausdruck dieser neuen “Qualität” in unserer weltweiten Gemeinschaft sind die Neufassung des internationalen Programms (1982) und der internationalen Statuten (1987); beides trägt nun unmißverständlich der Tatsache Rechnung, daß sich das Internationale Kolpingwerk heute als tatsächlich weltweite Gemeinschaft mit entsprechender Vielfalt versteht. Nach wie vor stellt das Kolpingwerk Deutscher Zentralverband den bei weitem größten Zentralverband in diesem weltweiten Werk dar, was sehr wohl auch eine besondere Verantwortung für das Leben und Wirken dieser weltweiten Gemeinschaft des Internationalen Kolpingwerkes bedeutet. Für das Internationale Kolpingwerk stellt die Seligsprechung Adolph Kolpings am 27.10.1991 einen Höhepunkt seiner Geschichte dar. Für das Kolpingwerk Deutscher Zentralverband war der 3. Oktober 1990 ein Markstein seiner Geschichte insofern, daß mit dem Vollzug der Deutschen Einheit endlich wieder ein gesamtdeutscher Zentralverband besteht.
Aktuelle Aufgaben und Herausforderungen für einen katholischen Sozialverband stellen sich heute auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene in hohem Maße. Auf allen Ebenen hat das Kolpingwerk im Laufe seiner Geschichte seine recht verstandene Anpassungsfähigkeit bewiesen, indem es immer wieder verstanden hat, die grundlegenden Ideen und Ziele Adolph Kolpings in einer den jeweiligen Zeitverhältnissen angemessenen Weise umzusetzen. Vor dieser Aufgabe steht auch heute das Kolpingwerk Deutscher Zentralverband; vielfältige Bemühungen sind erforderlich, um – durchaus auch im Blick auf manche Schwachstellen der Verbandsarbeit – eine wirkungsvolle und erfolgreiche Zukunft als moderner und attraktiver katholischer Sozialverband zu ermöglichen.