Programm

150 Jahre neue Kirche St. Dionysius

Wild-West in Borbeck

Der Bau der neuen Dionysiuskirche

So konnte es einfach nicht weitergehen, sagte sich Pfarrer Joseph Legrand (1798-1877). Als er 1830 als Kaplan nach Borbeck kam, lief noch das Vieh über den Kirchhof und man zählte gerade mal rund 2500 Einwohner. Dann machte die neue Dampfmaschine zuerst in Schönebeck die Abteufung einer Tiefenzeche möglich, Schlag auf Schlag folgten die nächsten. Überall schießen Walz- und Hüttenwerke aus dem Boden, Mühlen, Ziegeleien und Fabriken. Rücksichtslos frisst sich die Industrie in die Landschaft.

Wilder Westen: Eine Welt steht Kopf

Hunderte, bald Tausende Arbeiter kommen aus allen Himmelsrichtungen. Ein Kommen und Gehen: Streiks, Entlassungen, Auswanderungen und Neuanwerbungen. Kurz vor 1860 ist die ganze Landgemeinde mit fast 18.000 Einwohnern größer und bevölkerungsreicher als das benachbarte Essen. Und hat seit langem sogar zwei Bahnhöfe in Bergeborbeck und Dellwig. Völlig planlos wuchern Straßen und Schienenbahnen in das Gelände. Die Welt im alten Bauerndorf steht Kopf, hoffnungslos überfordert ist die Verwaltung. Wer soll Häuser bauen, die Finanzen regeln, die grassierende Kriminalität, die Seuchen, die Armut in den Griff kriegen? Und der Platz rund um die kleine alte Dionysiuskirche mit ihrem barocken Zwiebeltürmchen – ganze 22 Meter breit und 20 Meter lang – ist bei den Gottesdiensten schwarz von Menschen.

Geld musste her und eine radikale Lösung. Gegen alle Widerstände, wenn es sein musste. Dazu legt sich der zähe Pfarrer sogar mit dem Königreich Preußen an. Nach jahrelangem Rechtsstreit bekommt Legrand im Revolutionsjahr 1848 Recht: Preußen wird als Rechtsnachfolger der Fürstäbtissinnen dazu verurteilt, zwei Drittel der Erbauungs- und Unterhaltungskosten der Borbecker Kirche zu zahlen.

Die erste neugotische Kirche im weiten Umkreis

1854, sechs Jahre später, liegt der Entwurf für einen Neubau auf dem Tisch des Pfarrhauses. Er stammt von einem der Top-Architekten seiner Zeit: Der junge Kölner Baumeister Vinzenz Statz (1819-1898) hatte gerade mit einem guten Dutzend neuer Kirchen im Rheinland den rasanten Boom für einen völlig „neuen“ Baustil losgetreten. Jetzt soll in Borbeck das größte und erste neugotische Gebäude im weiten Umkreis überhaupt entstehen, anlehnt an die Bauformen des Mittelalters. Ein Jahr später wird der Neubau durch das Staatsministerium in Berlin genehmigt. Die Oberbauleitung übernimmt Baurat Krüger von der Königlichen Regierung in Düsseldorf, der Ende August 1860 Baumeister Maximilian Nohl mit der Überarbeitung der Pläne und Kostenschätzungen beauftragt.

Der hochtalentierte 30-Jährige aus Iserlohn sagt sofort zu. Der gelernter Feldmesser, beim Eisenbahnbau beschäftigt, hatte an der Berliner Bauakademie studiert, war Bauführer in Bonn, Naumburg, Halle an der Saale, aber auch in Architekturbüros in Hamburg und München tätig und hatte 1857 die Prüfung als Landbaumeister abgelegt. Eine ausgedehnte Reise führte ihn fast ein Jahr durch die Niederlande und Belgien nach Italien.

Ein „grauenvolles Projekt“

Voller Tatendrang macht er sich nach Borbeck auf – und ist von dem „grauenvollen Projekt“ schockiert: „ … traf am 15 Octbr. in dem schmutzigen Essen ein, um eine wahrhaft traurige Arbeit zu beginnen … nämlich einen neuen Kostenanschlag über die Kirche in Borbeck aufzustellen. Der Entwurf ist so geistlos und gewöhnlich gothisch, daß ich nichts an ihm loben kann; … ich hoffe … das Projekt noch umzustoßen oder wenigstens meine eigenen Gedanken dafür zu verwenden“, schrieb er im Dezember an seinen Bruder Ludwig. Er habe gewagt, in einem Memorandum nachzuweisen, dass durch verschiedenen Veränderungen, vor allem durch die Verringerung der Mauerstärken, die Kosten zu reduzieren. Der vorgesetzte Baurat aber verstehe das Streben und Drängen seiner „Künstlernatur“ nicht.

Das Ende ist besiegelt

Schließlich werden zwar die Mauern um ein Drittel reduziert, Nischen zur Ersparung von Material eingesetzt und andere Veränderungen akzeptiert. Doch der Bauleiter setzt Nohl im April 1861 wieder auf die Straße. Krüger ist den ständigen Streit offensichtlich leid und holt Ende Juli 1861 Baumeister Guinbert unter dem Essener Kreisbaumeister August Wilhelm Kind für die Bauaufsicht. Das auf dem Bauplatz stehende alte Pfarrhaus ist bereits abgerissen und an neuer Stelle errichtet, im Spätsommer steht am Germaniaplatz die von Johann Heege aus Bottrop für 1632 Taler erbaute hölzerne Notkirche. Anfang Januar 1862 schreibt der Königliche Kreisbaumeister Kind in der „Essener Zeitung“ den Abbruch der barock ausgestatteten kleinen Kirche mit ihren vier Altären aus – das Ende von Alt-St. Dionysius ist besiegelt. Alles – bis auf das Mauerwerk – wird eine Woche später in der Wohnung von Wirt Knotte auf Abbruch an den Meistbietenden verkauft, wenig später zieht das alte Mobiliar in die Notkirche um.

Chaos am Kirchplatz

Am Kirchplatz drängen sich bald die Neugierigen. Hier ist das Chaos ausgebrochen: Bis Jahresende ist die ganze alte Kirche abgetragen, der Bauschutt vergrößert den neuen Bauplatz erheblich zum heutigen Krankenhaus hin. Auf die Nordfundamente der alten Kirche soll die Südwand des neuen Gotteshauses gesetzt werden. Während die Zeitungen sich zur erwarteten neuen „architektonischen Zierde“ schon lobend überschlagen, schießt plötzlich die königliche Regierung wieder dazwischen. Sie will den aus Feldsteinen erbauten massiven alten Turm erhalten – das ganze Projekt scheint wieder gefährdet. Pfarrer Legrand bleibt konsequent und setzt sich durch. Bei miesem Wetter zieht am 7. August 1862 nach dem Hochamt in der Notkirche eine Prozession zur Baustelle, Dechant Köllmann aus Werden hält eine Festrede und Legrand legt den Grundstein, ein Geschenk des Vorstandes vom Hl. Grab zu Jerusalem. Wie die Zeitungen berichten, ist er von der Stelle aus dem Heiligen Land, an der nach einer frommen Sage der Baum gestanden hat, aus dem das Kreuz Jesu gezimmert worden ist. Unter Glocken­geläut zieht die Prozession zum Te Deum wieder in die Notkirche und im Pfarrhaus lädt Legrand zu einem Festessen.

1863: Einweihung der Kirche

Borbeck-Mitte wird jetzt zur Großbaustelle: Fuhrwerke bahnen ihren Weg, Gerüstholz und Ziegelberge stapeln sich am Bauplatz. Langsam wachsen der vorgesetzte Westturm, zehn Pfeiler und die Seitenwände, zwölf gotische Maßwerkfenster werden sichtbar. Ein riesiges, 1850 Quadratmeter großes Dach ist über dem eingewölbten gotischen Kreuzgewölbe zu decken – exakt doppelt so groß wie das der alten Kirche. Nach knapp 17 Monaten steht endlich fast alles: Zwar fehlen noch Turmhelm und gesamte Innenausstattung, aber Pfarrer Legrand kann auf keinen Bischof aus Köln warten. Zu  Weihnachten 1863 weiht er die Kirche selbst ein. Betend zieht die Gemeinde am Morgen von der Notkirche zu dem riesigen Neubau und feiert ein festliches Hochamt.

Der in den Zeitungen gerühmte Architekt Statz hat es inzwischen zum Kölner Diözesan- und Dombaumeister gebracht. Zwar ist sein Borbecker Kirchenschiff mit 42 Metern Länge jetzt schon wieder zu klein für den Andrang – sonntags werden vier Messen gehalten. Doch das Ergebnis des Kraftaktes ist in der ganzen Region außergewöhnlich und setzt Maßstäbe. Nichts erinnert mehr an früher, fast sämtliche alten Ausstattungsstücke sind verschwunden. Und an die Jahrhunderte vor der In­dustriellen Revolution erinnern nur noch die vom Anfang des 16. Jahrhunderts datierte hölzerne Standfigur der Madonna und das Epitaph der Fürstäbtissin Elisabeth von Manderscheidt-Blankenheim.

Böllerschüsse vom Kirchturm

Rund um die Kirche werden im folgenden Frühjahr Linden gepflanzt und eine riesige Menschenmenge drängt sich am 7. Juni 1864 bei bestem Wetter rund um die strahlende Kirche: Sechs Meister und Gesellen aus den Familien Marre, Mühlenberg, Bücking, Peters und Wittstamm klettern in schwindelnder Höhe auf dem Turm herum und setzen ihm „in 200 Fuß Höhe“ ein „1200 Pfund schweres eisernes Kreuz“ auf die Spitze. Just als der Küster um 12 Uhr mittags zum Angelus läutet, entfaltet sich die am Kreuz angebrachte Fahne. Meister und Gesellen geben 50 weithin schallende Schüsse ab und bekränzen am Nachmittag das Kreuz mit Eichenlaub, um den Feierabend im Gartenlokal Holdt feiernd zu beschließen, berichtet die Essener Zeitung am folgenden Tag.

Fünf Jahre nach der Grundsteinlegung kommt endlich allerhöchster Besuch aus Köln: Am 13.Juni 1867 weiht Erzbischof Paulus Kardinal Melchers (1814-1895), Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, die Altäre der Borbecker St. Dionysius-Kirche. Auf dem neuangelegten Friedhof wird das von Vincenz Statz entworfene neugotische Standkreuz errichtet und Pläne für die nächsten großen Kirchenbauten in Frintrop und Bergeborbeck sind bereits in Arbeit.

 

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