unter Bezug auf den 90. Jahrestag der Ruller Wallfahrtspredigt des Osnabrücker Bischofs Wilhelm Berning vom 27. Mai 1934
Lesung Dtn 4, 32-34.39-40 Evangelium Lk 24, 13-35„
Meine lieben katholischen Männer und Jungmänner.
Es ist eine herrliche Glaubenskundgebung, die wir heute erleben. Das ist keine politische Demonstration, sondern eine rein religiöse Feier. Vom Glauben und der Liebe getrieben, habt ihr euch auf den Weg gemacht, um hier den Segen des Allmächtigen auf euch und eure Familien, auf unser Volk und Vaterland herabzurufen, um das Gelöbnis abzulegen, als echt katholische Männer zu leben, zu streiten und zu leiden.“
Vielleicht sind Sie, seid Ihr jetzt irritiert. Ich hoffe es jedenfalls. Denn mit diesen
Worten – gesprochen am 27. Mai 1934 – also fast auf den Tag genau vor 90
Jahren, hat Bischof Wilhelm Berning hier in Rulle 15.000 Wallfahrer begrüßt.
Eine andere Zeit, eine andere Sprache, andere Zahlen.
„Forsche einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind“… So haben
wir es gerade in der Lesung gehört. Machen wir das; suchen wir Antworten, um
der Gefährdung der Demokratie heute, den stärker werdenden
rechtsextremistischen Kräften in ganz Europa zu begegnen.
Forsche einmal in früheren Zeiten nach. Seit 1933 war der Katholik Adolf
Hitler Reichskanzler – zumindest war und blieb er zeitlebens auf dem Papier
katholisch. Mehr als die Konfession werden Bischof Berning Hitlers Zusagen
einer christlichen Prägung des NS-Staates veranlasst haben, dem Reichskanzler
anfangs zu vertrauen. Hitler – und das ist für uns heute wichtig, war nicht als
Ergebnis eines gewaltsamen Staatsstreichs an die Macht gelangt, sondern durch
die Zerstörung der Demokratie von innen heraus, so wie es die Rechten heute in
ganz Europa anstreben und da umsetzen, wo man ihnen nicht entgegen tritt.
Das wäre also die erste Antwort auf die aktuellen Herausforderungen der
Neuen Rechten: Ihren Lügen nicht auf den Leim gehen. Demokratie, Europa
und seine Institutionen schützen.
Die Kirchen waren die einzigen Institutionen, die sich dem Totalitätsanspruch
des Nationalsozialismus entziehen konnten; zum politischen Widerstand haben
sie nicht aufgerufen. Die überwiegend konservativ-nationale Grundhaltung ihrer
leitenden Köpfe führte sie immer wieder in die Loyalität zur Obrigkeit. In der
Silvesterpredigt Bischof Bernings zum Jahresausklang 1933 kam seine Freude
über die „nationale Erhebung“ – so nannten die Nationalsozialisten die
Machtergreifung damals – und seine Nähe zum neuen Regime deutlich zum
Ausdruck. Unschwer erkennbar war seine Skepsis gegenüber der Weimarer
Republik und ihrer Demokratie. Berning rief den Gläubigen zu: „Wir haben
nunmehr statt der Herrschaft von vielen eine einheitliche Führung. Wir
Katholiken erkennen das Führerprinzip freudig an. Es ist uns ja nichts Neues. …
Wir anerkennen diese staatliche Autorität aus religiöser Auffassung und bringen
ihr Ehrfurcht, Liebe, Gehorsam entgegen.“
Gehorsam gegenüber dem Staat aus religiöser Auffassung? – Das ist eine
gängige Fehldeutung der Worte des Apostels Paulus aus dem Römerbrief (Röm
13,1-14), der wir bis heute begegnen. Wie widersinnig das ist, zeigte sich auch
1936 im Emslandlager Aschendorfermoor, als Bischof Berning eben diesen
Gehorsam gegenüber der Obrigkeit von den Gefangenen des Nazi Regimes
einforderte.
In seiner Silvester Predigt von 1933 würdigte der Bischof das Konkordat des
Vatikans mit Hitler-Deutschland vom Juli des Jahres als Ausdruck des Friedens
zwischen Staat und Kirche. Im Vorfeld hatte die Kirche die NSDAP und ihre
Organisationen in den Wahlkämpfen vor der Machtergreifung noch energisch
verurteilt. Das Konkordat war für Hitler nun ein großer Erfolg. Es bedeutete die
außenpolitische Anerkennung des Regimes; im Innern war der politische
Katholizismus ausgeschaltet, die Kirche auf ihren religiösen Bereich zurück
verwiesen. Die Kirche konnte zwar für sich verbuchen, dass sie jetzt über eine
Rechtsgrundlage verfügte – in der trügerischen Hoffnung, dass sich der NS-
Staat an Verträge halten würde. Aber das Klima verschlechterte sich bald und es
zeigte sich, wie hoch der Preis war, den man für die vermeintliche Rettung der
kirchlichen Organisation und ihr Innenleben gezahlt hatte.
Vor 90 Jahren zog Bischof Berning dann hier in Rulle zu Felde gegen das
Neuheidentum der Chefideologen der NSDAP. Er wetterte gegen falsche
Propheten, die eine neue Religion aus Blut und Rasse erklären wollten. In seiner
Predigt stellte er sich angesichts zunehmender staatlicher Übergriffe auch vor
seine Gläubigen. „Die katholischen Vereine zerreißen nicht die
Volksgemeinschaft“, sagte er. Volksgemeinschaft – das war ein zentraler Begriff
der NS-Ideologie. Der Bischof fuhr fort: Ein guter Katholik fühle sich dem Staat
und der Regierung in seinem Gewissen zu Liebe, Ehrfurcht und Gehorsam
verpflichtet.
Diese Gehorsamspflicht werden nicht alle geteilt haben, denn nicht wenige
Gläubige fühlten sich in ihrer Ablehnung des Regimes von der Kirchenleitung
allein gelassen. Konrad Adenauer – er ist in diesen Tagen des 75. Geburtstages
unseres Grundgesetzes in aller Munde – ist ein unverdächtiger Zeitzeuge; er
beklagte 1946 in einem Brief, wie sehr Bischöfe und Klerus auf die
nationalsozialistische Agitation eingegangen seien. (23. Februar 1946, Brief an
Bernard Custodis/Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-
1955. München 1999, S. 40-42)
Kritische Worte der Bischöfe wie hier in Rulle nahmen die Gläubigen
aufmerksam wahr. Vor allem fühlten sie sich gestärkt durch die Enzyklika „Mit
brennender Sorge“, mit der Pius XI. 1937 öffentlich den Kampf der
Nationalsozialisten gegen die Kirche brandmarkte. Der Papst verurteilte darin
die Rassenideologie und ergriff auch Partei für die Juden: Das „alttestamentliche
Bundesvolk“ sei Träger wahrer und göttlicher Offenbarung, so schrieb er. An
anderer Stelle sagte Pius XI. öffentlich: „Antisemitismus ist unvertretbar. Im
geistigen Sinne sind wir Semiten.“ Umso mehr stellt sich die Frage: Wo war der
öffentliche Aufstand der Bischöfe gegen die Judenpogrome von 1933 und 1938,
gegen die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die Verfolgung und Vernichtung
Andersdenkender?
Als zweite Antwort auf die eingangs genannten Herausforderungen für
unsere Zeit lässt sich deshalb festhalten: Christen dürfen den Blick auf die
Opfer der Geschichte nicht verlieren – auch über den Tellerrand der eigenen
Gemeinschaft hinaus. Diese Erinnerungskultur ist Kern des Christseins. Die
Neuen Rechten schmähen und verhöhnen diese Erinnerungskultur (Gauland:
Vogelschiss – Höcke: Denkmal der Schande).
Dieser Blick auf die Opfer fehlte auch aus Anlass der Angriffskriege,
insbesondere des Überfalls auf die Sowjetunion 1941. Die Bischöfe stellen dem
Angriffskrieg kein klares Nein entgegen, predigten nicht selten
Durchhaltevermögen. Vor dem Russlandfeldzug tönte von mancher Kanzel im
Reich der alte Ruf der Kreuzzüge: Gott will es!
In seinem schon erwähnten Brief an Bernard Custodis, den Pfarrer von St.
Elisabeth in Bonn, kritisierte Konrad Adenauer: Man habe doch gewusst von
den Konzentrationslagern, dass die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch
unsere Truppen in Polen und Russland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen
die Zivilbevölkerung vorgingen… Und weiter schreibt Adenauer: „Wenn die
Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den
Kanzeln aus dagegen Stellung bezogen hätten, sie hätten vieles verhüten
können.“ Diese Einschätzung mag angesichts des Grauens des Holocaust und
des Vernichtungskrieges in Russland geradezu verzweifelt klingen; aber die
öffentliche Wirkung der Worte einiger Bischöfe – auch Bernings – gegen die
Euthanasiemorde kann belegen, dass Chancen ungenutzt blieben, wo es den
Bischöfen an Mut zur Gegenrede mangelte.
Welches Potenzial zur Nicht-Anpassung im Kirchenvolk vorhanden war,
können wir auch im aktuellen Kirchenboten lesen (Hermann Queckenstedt. Nr.
17/26. Mai 2024, Seite 28-29). Die Osnabrücker Gestapo verwies in ihren
Lageberichten 1934 besorgt auf zahlreiche Wallfahrten – so nach Rulle, Lage
und Kevelaer. Der Unmut über die täglichen Schikanen und die Unterdrückung
vor Ort äußerte sich in einer wachsenden Beteiligung am kirchlichen Leben. Der
Kampf um die Bekenntnisschulen, Prozessionen, Wallfahrten, Jugendaktionen
wurden im ganzen Reich zu Demonstrationen katholischer
Widerstandsbereitschaft. 15.000 Teilnehmer hier, 20.000 Frauen aus dem
Emsland in Wietmarschen. In Köln zählte man 1934 gar 40.000 Teilnehmer! Es
ging bei diesen mutigen Formen von Verweigerung und Nichtanpassung zwar
weniger um politischen Widerstand als um kulturelle Selbstbehauptung. Aber
dieser Protest zeigte den Machthabern, wo zumindest vorerst die Grenzen ihrer
Durchsetzungskraft lagen. Sie verschoben die große Abrechnung auf die Zeit
nach dem Krieg.
So lautet eine dritte Antwort für die Herausforderungen unserer Zeit: Wer
seine Haltung offensiv und mit Gleichgesinnten bekennt, wird stark, der kann
den Strategien der falschen Propheten von Verführung und Gewalt entgegen
treten.
Fazit: Die Palette des Wirkens der Kirche in dieser dunklen Zeit reichte von der
Bereitschaft zur Anpassung und schuldhaftem Versagen über eine breite
Verweigerung an der Basis bis hin zum Widerstand Einzelner, der auch in Haft,
Lager und den Tod führte. Deren Namen kennen wir alle (Pater Delp, die
Lübecker Märtyrer, Geschwister Scholl, Dietrich Bonhoeffer und viele
sogenannte „kleine Leute“). Es war eine überaus grausame Zeit des
Totalitarismus; Nachgeborene sollten zurückhaltend sein, in allzu sicherer
Selbstgerechtigkeit allzu einfache Urteile zu fällen oder auch allzu einfache
Mechanismen der Entschuldung zu suchen.
Es geht darum, die früheren Zeiten zu verstehen: Was waren die
Berührungspunkte zur NS-Ideologie, die Ursachen von Anpassung und Schuld?
Ich meine, sie lassen sich in wenigen Spiegelstrichen festmachen:
– Die Bischöfe waren national konservative Patrioten,
– sie einte die Angst vor dem Bolschewismus.
– Sie waren keine Demokraten.
– Sie standen gegen den Liberalismus der Aufklärung und dessen Werte,
– sie waren aus Milieu und kirchlicher Tradition antijudaistisch geprägt.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat vieles davon überwunden. Demokratie,
Meinungs- und Religionsfreiheit wurden anerkannt. Dennoch gibt es leider nach
wie vor eine wachsende Verbindung konservativer christlicher Milieus mit der
Neuen Rechten. Die Ablehnung des Konzils steht dabei an erster Stelle. Ihr
Kampf gilt den liberalen Werten der Aufklärung. Sie instrumentalisieren
Themen wie Familie, Rechte der Frau, Schutz des Lebens. Sie leugnen den
universalen Anspruch des christlichen Menschenbildes, hetzen gegen die
Integration von Migranten.
Die Bischöfe in den neuen Ländern, die Deutsche Bischofskonferenz und zuletzt
die Bischöfe und Kirchenleitungen in Niedersachen und Bremen haben sich in
beeindruckender Weise zur Demokratie und ihren Werten und zum
europäischen Friedenswerk bekannt. Sie haben die Unvereinbarkeit des
christlichen Menschenbildes mit den Inhalten der Rechtsextremisten betont!
Rassismus und Antisemitismus eine Absage erteilt.
So weit, so gut! Das Beispiel Bernings, sein irrlichterndes Verhalten in der NS-
Zeit, zeigt mir aber zugleich: Auch die Macht eines Bischofs muss sich
demokratischer Rechenschaft und synodaler Prinzipien stellen. Leitung gern,
aber nie wieder Führerkult! Das ist die vierte Antwort und zugleich
innerkirchliche Aufgabe auf die Herausforderungen unserer Zeit.
Wenn mir eines in der Vorbereitung dieser Predigt klar geworden ist, dann ist es
die Kraft der Selbstbehauptung der Kirchenbasis: Verbände, Vereine,
Gemeinden. Vieles davon bricht heute ab. Deshalb will ich an Euch und Sie
zuletzt appellieren: Gehen wir – wie der Herr auf dem Weg nach Emmaus – all
denen nach, die enttäuscht, müde und traurig geworden sind, oft auch zurecht;
die nach vielen guten Jahren jetzt das Boot verlassen, aus dem andere
verzweifelt Wasser schöpfen.
Treten wir den Lügen und Umdeutungen christlicher Werte der Neuen Rechten
entgegen. Gegenrede – gerade aus dem eigenen Umfeld ist mühsam, aber sie
wirkt!
Und gehen wir auf alle Menschen guten Willens zu, wie bei den großen
Demonstrationen gegen die Pläne der AfD zur sogenannten „Remigration“ von
Menschen mit Migrationshintergrund.
Gemeinsam sind wir stark! Nie wieder ist jetzt! Amen
Diakon Dr. Gerrit Schulte, Osnabrück